Sie will wissen, was wir wollen

Denise Tonella ist eine interne Lösung und hat im Landesmuseum schon einige Ausstellungen kuratiert. Bild Pascal Turin

Einer ihrer Schwerpunkte wird die Publikumsforschung sein: Denise Tonella leitet das Schweizerische Nationalmuseum, zu dem das Landesmuseum in Zürich gehört. Nach 100 Tagen im Amt hat die 42-Jährige eine erste Bilanz gezogen.

Einstimmig aus 45 Bewerbungen ausgewählt und die «beste Person, die man finden kann, für diesen Job» – Denise Tonella durfte sich über viele positive Worte ihres Chefs Tim Guldimann freuen. Der Ex-Spitzendiplomat präsidiert den Museumsrat des Schweizerischen Nationalmuseums, zu dem das Flaggschiff Landesmuseum in Zürich gehört. Guldimann präsentierte kürzlich den Medien stolz die neue Direktorin nach 100 Tagen im Amt.

Tonella folgte auf Andreas Spillmann, der diesen Frühling nach rund 14 Jahren aufhörte, um sich anderen Herausforderungen zu widmen. Die Fussstapfen sind dementsprechend gross, immerhin wird Spillmann nachgesagt, er habe das verstaubte Haus wieder attraktiv gemacht. Auch Tonella dürfte einen Beitrag zum Erfolg geleistet haben. Sie arbeitet seit 2010 beim Schweizerischen Nationalmuseum und war ab 2014 als Kuratorin und Ausstellungsprojektleiterin tätig. Aktuelle Beispiele ihrer Arbeit sind die Dauerausstellung «Geschichte Schweiz» oder «Frauen.Rechte – Von der Aufklärung bis in die Gegenwart».

Ausländische Gäste zurückholen
Tonella stellte am Medienanlass ihre Pläne für die Zukunft vor. Sie will unter anderem einen Schwerpunkt auf die Publikumsforschung legen. Die 42-jährige Tessinerin möchte genauer wissen, was die Besucherinnen und Besucher von ­ihrer Museumsgruppe erwarten oder ­warum andere gar nicht erst vorbeikommen. Tonella muss sich die Frage stellen, wie die internationalen Gäste nach eineinhalb Jahren Coronapandemie zurückgeholt werden können. Das ausländische Publikum machte einen Drittel der Besuchenden aus. Hier dürfte der Bereich ­digitales Museum verstärkt werden. Das Landesmuseum bietet bereits jetzt virtuelle Führungen und Videos an.

Ausstellungsmässig wird man vorerst von aussen kaum einen Unterschied merken. Tonella profitiert noch von der Planung ihres Vorgängers, denn grosse ­Ausstellungen werden weit im Voraus aufgegleist. Das Landesmuseum will sich etwa der Jungsteinzeit oder dem Wald widmen. Fahrradfans dürfen sich auf eine Schau übers Velo freuen.

«Das Ausstellungsprogramm wird ­abwechslungsreich bleiben und alle Bevölkerungsgruppen ansprechen», sagte Tonella. Sie möchte einen Beitrag zum besseren Verständnis von Kultur, Geschichte und Identität leisten.

Zuerst veröffentlicht im «Züriberg» vom 15. Juli 2021.

In vergangene Zeiten abtauchen

Foto: Pascal Turin

Verborgen im Untergrund: Vor zehn Jahren wurden zwei Pfahlbau-Fundstellen in Zürich ins Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen. Die Stadt nimmt dies zum Anlass für eine Ausstellung. Ausserdem lanciert sie eine App, mit der man digital rund 5000 Jahre in die Vergangenheit reisen kann.

Der Taj Mahal in Indien gilt als Welt­kulturerbe, die Berner Altstadt ebenso. Beiden ist gemeinsam, dass man die Orte besuchen und bestaunen kann. Zürichs Weltkulturerbe befindet sich mehrheitlich im Untergrund. 2011 hat die Unesco 111 von knapp 1000 Pfahlbaufundstellen aus der Schweiz, Österreich, Frankreich, Deutschland, Italien und Slowenien in ihre Liste aufgenommen. Zwei davon sind in der Limmatstadt – beim Bellevue und beim General-Guisan-Quai.

«Eine grosse Geschichte, wenn man ­bedenkt, was da sonst auf der Liste ist», sagte Katrin Gügler stolz. Sie ist die Direktorin des Amts für Städtebau und hat am Montag eine neue Ausstellung eröffnet. Bis 12. Juni wird die Geschichte der Pfahlbau- und Unterwasserarchäologie in Zürich im Haus zum Rech am Neumarkt gezeigt. Gleichzeitig lancierte das Amt für Städtebau eine kostenlose App für Smartphone und Tablet.

Alltag bestand aus harter Arbeit
Pfahlbauerinnen und Pfahlbauer waren Bauern. Sie pflanzten Getreide an, züchteten Rinder und bauten Holzhäuser auf Pfählen. Doch ganz so romantisch, wie man sich das vielleicht vorstellt, war diese Zeit nicht. Wie in der Ausstellung zu sehen ist, wurden die Dörfer oft nur wenige Jahrzehnte bewohnt. Wenn Böden ausgelaugt waren und die Wälder nichts mehr hergaben, zogen die Urzürcherinnen und Urzücher weiter. Sie bauten einige Kilometer entfernt eine neue Siedlung. Ausserdem war das Leben für die Pfahlbauerinnen und Pfahlbauer kein Zuckerschlecken. Die Gemeinschaften ­bestanden vorwiegend aus jungen Menschen, der Alltag aus harter Arbeit.

Heute ist viel über diese Zeit bekannt, weil Überreste verschiedener Siedlungen  im Uferbereich des Sees unter dem Boden sehr gut erhalten geblieben sind. So konnten Holz, Textilien, pflanzliche Reste oder Knochen gefunden werden. Selbst Körbe oder Fischernetze haben im versiegelten Untergrund überdauert.

Einen wichtigen Beitrag leistet die Unterwasserarchäologie der Stadt Zürich.  Sie schützt und dokumentiert archäologische Fundstellen in Seen und Flüssen.  Ihre Experten suchen Quadratmeter für Quadratmeter den Grund ab. Dort sind nicht nur Pfahlbauten zu finden, sondern auch weniger alte Schiffswracks oder Brücken- und Hafenbauten.

Die Anfänge der Zürcher Unterwasserarchäologie gehen auf die 1960er-Jahre zurück, als erste Erkundungstauchgänge vor dem Bellevue durchgeführt wurden. Ulrich Ruoff, der damalige Leiter des Baugeschichtlichen Archivs, setzte anfänglich auf private Taucher.

Zuerst musste jedoch definiert werden, wie solche Funde ausgegraben und dokumentiert werden sollten. Heute ist die Zürcher Unterwasserarchäologie, die dieses Jahr ihr 60-jähriges Bestehen feiert, in anderen Kantonen und sogar im Ausland tätig. Andreas Mäder adelte das Wirken seiner Abteilung als «Pionierarbeit». Er leitet die Unterwasserarchäologie und Dendroarchäologie, wobei letztere Holzfunde und Kunstgegenstände untersucht.

Ganze Schweiz feiert
In der Ausstellung zu sehen sind historische Fotos, Filmaufnahmen, Modelle und Fundstücke sowie Tauchgeräte. Die Schau führt von der ältesten Pfahlbausiedlung am Bellevue um 4300 vor Christus bis zur jüngsten Pfahlbausiedlung am General-­Guisan-Quai. Mit jener endete die Pfahlbauzeit um 800 vor Christus ziemlich ­abrupt. Über die Gründe wird noch diskutiert, eine Hypothese wären klimatische Veränderungen.

2021 finden in der ganzen Schweiz Aktivitäten zum Thema Pfahlbauten statt. Im Kanton Zürich etwa kann man in Maur, Mönchaltorf, Pfäffikon und Wetzikon Ausstellungen besuchen.

Stadt: www.stadt-zuerich.ch/uwad Kanton: www.die-pfahlbauer-in.ch

Zuerst veröffentlicht im «Züriberg» vom 15. April 2021.

Turicum hatte eine Abfalldeponie

Um die Mitte des 4. Jahrhunderts zog sich die Bevölkerung von Turicum zum Schutz in ein Kastell auf dem Lindenhofhügel zurück. Blick von Norden Richtung Zürichsee. Visualisierung Archäologie Stadt Zürich / archaeolab.ch

Ein Buch der Kantonsarchäologie Zürich wirft einen spannenden Blick auf Zürich in römischer Zeit. Allerdings sind noch nicht alle Geheimnisse gelüftet. Denn nachdem die Kleinstadt über Jahrzehnte prosperierte, folgten unruhige Zeiten und der Abstieg.

Nur ein Jahr, fünf Monate und fünf Tage hatte er gelebt. Um 200 nach Christus starb Lucius Aelius Urbicus. Hunderte Jahre später, 1747, entdeckte man auf dem Lindenhof mitten in Zürich den Grabstein des Jungen. Der Fund stellte sich als sehr wichtig für die Erforschung der Stadtgeschichte heraus. Der Grabstein gab einen Hinweis auf den Vater des Verstorbenen. Dieser hatte als Vorsteher der «Statio Turicensis» geamtet, einer römischen Zollstation.

«Die Frage nach dem antiken Namen Zürichs war damit gelöst, und anstelle von Tigurinum trat wieder das bereits zuvor vermutete Turicum», heisst es dazu in der neusten Publikation der Kantonsarchäologie Zürich. Autorin des Buchs ist Annina Wyss Schildknecht. Sie vereint in ihrer Dissertation verschiedene Erkenntnisse zu einem Gesamtbild, wertet sie aus und zeichnet die Entwicklung der römischen Siedlung Turicum vom 1. Jahrhundert vor Christus bis ins 4./5. Jahrhundert nach Christus nach.

Kelten waren der Ursprung
Die Erforschung des alten Zürichs begann vor über 200 Jahren. Systematische Grabungen gab es allerdings erst ab den 1930er-Jahren. Archäologin Wyss Schildknecht konnte sich auf über 200 Fundstellen mit römischen Gebäuderesten und Fundobjekten stützen. «Die Stadtgeschichte kann dank ihrer Arbeit um wichtige Kapitel ergänzt werden», loben Stadt und Kanton Zürich in einer Mitteilung.

Die Ursprünge Zürichs gehen auf die keltische Zeit zurück. An den Abhängen des Lindenhofhügels befand sich ab circa 80 vor Christus ein keltisches Oppidum, also eine befestigte Siedlung. Einen Höhepunkt erlebte Ur-Zürich dann im 2. Jahrhundert nach Christus. «Die römische Kleinstadt Turicum, die sich im Bereich der heutigen Altstadt vom Lindenhof zu beiden Seiten der Limmat erstreckte, erreichte zu dieser Zeit ihre grösste Ausdehnung», so Autorin Wyss Schildknecht, die einen interessanten Blick in die Geschichte der Stadt in der römischen Zeit ermöglicht.

Die Bedeutung des Orts beruhte in erster Linie auf seiner Lage am Wasser. Der Kleinstadt soll eine Schlüsselfunktion im Handel zwischen Süden und Norden zugekommen sein. «In Turicum musste die Handelsware wegen der unterschiedlichen Steuer- und Antriebstechniken sowie des geringeren Tiefgangs von See- auf Flussschiffe umgeladen werden», heisst es dazu im reich bebilderten Buch.

Die Siedlung hatte ein innerstädtisches Strassennetz und war von Norden und Süden zugänglich. «Eine Brücke über die Limmat gab es mit Sicherheit, konnte jedoch bis heute im Befund nicht nachgewiesen werden», so die Autorin. Auch sonst gab es in Turicum einige Annehmlichkeiten für seine Bewohnerinnen und Bewohner. Am linken Limmatufer standen etwa eine grosszügige Thermenanlage und Bauten für kultisch-religiöse Zwecke. An der Thermengasse, zwischen Schlüsselgasse und Weinplatz, können die Überreste der Thermenanlage jederzeit kostenlos besichtigt werden.

Turicum musste als Zollstation über eine oder mehrerer Schiffsanlegestellen verfügt haben. Doch hier fehlt, wie bei der Brücke, der eindeutige archäologische Nachweis. Eine römische Quaimauer konnte nicht gefunden werden. Nachgewiesen ist hingegen eine Abfalldeponie. «Die Tatsache, dass der Unrat in einer Deponie entsorgt wurde, weist auf einen übergreifend geregelten Umgang mit Siedlungsabfällen hin», so das Fazit. Auf dem Lindenhof soll es zudem einen Laufbrunnen gegeben haben. Offen ist, wie das Wasser zum Brunnen gelangte. Es musste einen beträchtlichen Höhenunterschied überwinden. Bis heute fänden sich weder Hinweise auf Wasserspeicher oder Wasserfassungen auf dem Lindenhof noch auf Zuleitungen aus der Umgebung wie beispielsweise mit einem Aquädukt. Auf alle Fälle deutet fliessendes ­Wasser auf eine begüterte Bewohnerschaft im Siedlungszentrum auf dem ­Lindenhof hin. Obwohl das Buch Fach­literatur ist, sind die detaillierten Auswertungen auch für Laien interessant.

Dann ging es abwärts
Doch die guten Zeiten hielten nicht für immer an. Im 3. Jahrhundert ging es mit Turicum langsam bergab. So konnten Spuren von Zerstörungen durch Brände festgestellt werden. Auch die Thermen wurden zerstört, warum ist unklar. Sie fielen nicht einem Brand zum Opfer. Und der Niedergang der Siedlung begann schon vor den Einfällen der Alamannen in das Gebiet der heutigen Schweiz. Im 4. Jahrhundert zog sich die Bevölkerung langsam in das in diesen Krisenzeiten gebaute Kastell auf dem Lindenhof zurück. Aus der Befestigung entwickelte sich später der Kern des mittelalterlichen Zürichs.

Der Grabstein des als Kleinkind verstorbenen Lucius Aelius Urbicus ist übrigens im Landesmuseum Zürich zu sehen. Eine Kopie befindet sich an der Pfalzgasse unterhalb des Lindenhofs.

Annina Wyss Schildknecht: Die mittel- und spätkaiserzeitliche Kleinstadt Zürich/Turicum. Eine Hafenstadt und Zollstation zwischen Alpen und Rheinprovinzen, 2020. Bezug: Verlagsshop auf www.fo-shop.ch.

Zuerst veröffentlicht in «Züriberg» vom 1. April 2021.